Standort Deutschland
Erdgas: Es geht auch ohne Russland
Auch im zweiten Winter funktioniert die Versorgung mit dem Energieträger. Experten analysieren die Lage für Verbraucher und Wirtschaft
von Hans Joachim Wolter
Berlin. Der zweite Winter ohne russisches Erdgas geht in die Schlussrunde. Viele Haushalte dimmen weiter die Heizung. Die Versorgung mit Erdgas läuft aber recht reibungslos. Es ist ausreichend Gas da, der Energieträger ist wieder billiger, und die Furcht vor Knappheit ist weg.
„Selbst bei extremer Kälte kann die Versorgungssicherheit mittlerweile gewährleistet werden“, sagt Sebastian Heinermann, Geschäftsführer der Initiative Energien Speichern (INES), dem Verband der Gas- und Wasserstoffspeicher-Betreiber in Berlin. „Die Ausgangslage für den Rest des Winters hat sich durch die moderaten Temperaturen im November und Dezember erheblich verbessert.“ Natürlich gebe es weiterhin „Ausfallrisiken“, die zu Engpässen bei der Gasversorgung führen könnten.
Wie aber funktioniert die Gasversorgung heute, ganz ohne Russland? Was macht den Umbruch möglich? Und was heißt das für Verbraucher und Wirtschaft? Hier gibt es Antworten.
Welche Risiken bestehen jetzt noch?
In Zeiten wie diesen genug. Im Oktober legte ein Leck die Gaspipeline von Finnland nach Estland lahm. Gregor Pett, Chefanalyst des Gasimporteurs Uniper in Düsseldorf, schließt so etwas für Pipelines nach Deutschland nicht völlig aus. Das hätte unmittelbare Folgen. Als im August beim Gasexporteur Australien Arbeiter mit Streik drohten, seien die Preise in Europa „in wenigen Tagen um ein Viertel bis ein Drittel gestiegen“, obwohl die Gastanker weiter beladen wurden und losfuhren, weiß der Experte, dessen Unternehmen 2022 durch den russischen Lieferstopp in Schwierigkeiten geriet.
Wie voll sind die Gasspeicher derzeit? Und wie lange reichen die?
Mit rund 91 Prozent Füllstand ging Deutschland in die kalten Januartage. „Mittlerweile können wir eine Unterversorgung aufgrund kalter Temperaturen ausschließen“, sagt INES-Geschäftsführer Heinermann. Die 42 unterirdischen Depots hierzulande fassen Erdgas für knapp 257 Milliarden Kilowattstunden. Bei einem Monatsverbrauch von 105 Milliarden Kilowattstunden wie im Dezember 2022 reicht das rechnerisch für etwa zweieinhalb Monate. Aber der Fachmann betont: „Die Speicher sind als Puffer gedacht. Es ist deshalb weiterhin erforderlich, dass der Gasimport nicht abreißt.“
Russland liefert nicht mehr – woher kommt jetzt eigentlich das Gas?
Strömte 2021 noch über die Hälfte des Gases per Pipeline aus Russland her, liefern heute Norwegen, die Niederlande und Belgien 90 Prozent des Erdgases. Professor Jochen Linßen, Energieexperte am Forschungszentrum Jülich, sagt: „In der Gaskrise hat sich Europa bewährt.“ Schnell sei mehr verflüssigtes Erdgas aus Übersee importiert worden. Und die Pipeline aus Norwegen arbeite mit maximaler Kapazität.
Braucht Deutschland genauso viel Erdgas wie früher?
Oder kommen wir mit weniger aus?
„Deutschland spart beim Gas. Und das hält bisher an“, sagt Linßen. Im Jahr 2022 verbrauchte die Bundesrepublik ungefähr 850 Milliarden Kilowattstunden Erdgas, im vergangenen Jahr waren es nur 810 Milliarden Kilowattstunden. Verglichen mit dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021 haben Haushalte und Gewerbebetriebe im vorigen Jahr im Schnitt sogar 16 Prozent weniger verbraucht, die Industrie 18 Prozent, so die Bundesnetzagentur.
„Unternehmen sind auf andere Energieträger umgestiegen, auf Erdöl, Kohle, Pellets, Biomasse oder LPG, also Autogas“, so Linßen. Oder sie drosseln ihre Produktion. Da geht auch Wirtschaftsleistung verloren. So will der Chemiekonzern BASF in Ludwigshafen unter anderem eine Anlage zur Produktion von Ammoniak für Dünger stilllegen.
Auch für die Kautschukindustrie ist die Lage beim Erdgas eine Herausforderung. Schließlich deckt sie damit mehr als ein Viertel ihres Energiebedarfs, etwa bei Formgebung und Vulkanisation.
Es ist oft von den neuen Import-Terminals die Rede.
Wie funktioniert das mit dem LNG?
Riesige Tanker bringen das verflüssigte Erdgas (LNG) her. Damit die Schiffe große Mengen transportieren können, wird das Gas in mehreren Prozessschritten und unter Druck auf minus 162 Grad Celsius abgekühlt. Dadurch schnurrt sein Volumen auf ein Sechshundertstel zusammen, es wird flüssig und in die Tanks der Spezialschiffe gepumpt. Am Zielort wird das LNG vom Tanker in den Terminal befördert, der es wieder in Gas umwandelt und ins Leitungsnetz speist. Die Technik hat einen Nachteil: Das Verflüssigen zu LNG verbraucht 10 bis 15 Prozent des Gases. Daher ist LNG meist teurer als Pipeline-Gas.
Was tragen die LNG-Terminals zur Gasversorgung bei?
Und wie viele brauchen wir davon?
Über die schwimmenden LNG-Terminals in Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Lubmin kommen derzeit 7 Prozent des Gases ins Land. Weitere Terminals sollen demnächst in Stade, erneut Wilhelmshaven und Mukran auf Rügen starten. Alle sechs Terminals zusammen könnten bei Vollauslastung zwei Drittel der früheren Gasimporte aus Russland ersetzen. Umweltschutzverbände kritisieren das als überdimensioniert. Uniper-Experte Pett verteidigt die Pläne der Bundesregierung: „Wir brauchen bei der Kapazität Luft nach oben, damit wir in einem kalten Winter mehr Gas importieren können.“ Darüber hinaus liefere Deutschland Gas nach Tschechien, Österreich und in die Schweiz weiter. Auch deshalb seien die Kapazitäten nötig.
Wo kommt das verflüssigte Erdgas her?
Und wie sicher ist die Versorgung damit?
Europas Hauptlieferanten von LNG sind die USA, Katar und Nigeria. Die Vereinigten Staaten haben bereits 2022 doppelt so viel verflüssigtes Erdgas über den Atlantik verschifft. Und werden das steigern. Es entstehen neue Verflüssigungsanlagen, vor allem an der Ostküste. Das US-Amt für Energiestatistik (EIA) prognostizierte im November, dass sich die Exportkapazität der USA, Kanadas und Mexikos bis Ende 2027 gegenüber dem letzten Jahr „mehr als verdoppeln“ wird. Auch das wegen seines Umgangs mit den Menschenrechten kritisierte Emirat Katar will seine Produktionskapazität bis 2026 um über 60 Prozent steigern und dann Deutschland beliefern.
Wird Gas bald wieder preiswert?
„Gas sparen ist weiterhin empfehlenswert“, sagt INES-Chef Heinermann. „Man schont sein Konto und das Klima. Aber für die Versorgungssicherheit muss man aktuell nicht über Gebühr sparen.“ Wer darüber hinaus Gas preiswerter beziehen will, hat derzeit gute Chancen. Zum Januar hatten örtliche Gasversorger laut dem Vergleichsportal Verivox 542 Preissenkungen von durchschnittlich 15 Prozent angekündigt. Beim günstigsten Angebot bekommen Neukunden die Kilowattstunde für rund 8,1 Cent. Wer den Gasversorger wechselt, kann beim Heizen des Eigenheims einige Hundert Euro im Jahr sparen. Das ist mal eine Ansage!