Debatte

Wie sinnvoll sind Streiks eigentlich noch?

Die Warnstreiks im Verkehr und öffentlichen Dienst haben die vergangenen Monate geprägt. Unsere Autoren diskutieren, ob und wann Streiks angebracht sind

von Christine Haas und Nicolas Schöneich

· Lesezeit 4 Minuten.
Spaltet wie selten zuvor: Das Streitthema Arbeitskämpfe. Foto: Daniel Ernst / adobestock.com

Lästig – und unverzichtbar

Wer kann sich an Zeiten erinnern, die für Beschäftigte schwieriger waren als die jetzigen? Die Inflation hat in den vergangenen Monaten Rekordwerte erreicht und ist weit entfernt von einem normalen Maß. Die Reallöhne sind deutlich gesunken. Für viele Berufsgruppen – ob Erzieher, Zugpersonal oder Reinigungskräfte – heißt das ganz konkret, dass sie beim Wocheneinkauf zurückstecken oder auf größere Anschaffungen verzichten müssen. Gewerkschaften, die darauf nicht mit außergewöhnlichen Aktionen reagieren würden, verlören ihre Existenzberechtigung. Dass Streiks in diesen Zeiten außergewöhnlich hart ausfallen, ist deshalb nachvollziehbar.

Wer gegen Streiks ist, schwächt eine der großen Errungenschaften in der Geschichte der Bundesrepublik: die Sozialpartnerschaft. Dass Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften Tarifverhandlungen führen, ist der Schlüssel zu einer sinnvollen Lohnfindung. Ihre gemeinsamen Lösungen sind staatlich verordneten Mindestlöhnen überlegen. Und dieses System funktioniert nur, wenn Beschäftigte ihr im Grundgesetz verankertes Recht zum Arbeitskampf wirklich nutzen können. Man stelle sich einmal vor, wie die Arbeitswelt ohne diese Möglichkeit aussähe. Arbeitgeber könnten sich Lohnerhöhungen schlicht versperren. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe, die den sozialen Frieden im Land langfristig stützt, wäre das nicht.

Christine Haas, Redakteurin KAUTSCHUK. Foto: IW Medien

Christine Haas, Redakteurin KAUTSCHUK. Foto: IW Medien

Und die negativen Folgen der Streiks? Unternehmen drohen Verluste, wenn die Produktion stillsteht. Bei Streiks im öffentlichen Dienst wird gern die Floskel bemüht, dass die Bevölkerung in Geiselhaft genommen werde. Es mag zwar stimmen, dass die Arbeitnehmer es mit ihrem Protest mitunter übertreiben. Doch wer das lautstark betont, sollte sich zuerst fragen, ob das nicht auch für seine eigene Kritik gilt. Den jüngsten Großstreik im Verkehr verteufelten viele schon angesichts ein paar regionaler Warnstreiktage und eines einzigen bundesweiten, es war gar die Rede von französischen Verhältnissen. Doch davon sind wir weit entfernt. Streiks müssen wehtun und lästig sein, sonst bringen sie nichts.

Oft wird zudem kritisiert, dass die Gewerkschaften die Proteste zur Mitgliederwerbung nutzen. Dabei ist auch das im Sinne aller: Ohne starke Arbeitnehmervertretungen gibt es keine starke Sozialpartnerschaft.

Privileg verspielt

Die Menschen, die es wirklich nötig hätten, streiken in diesem Land nicht. Die, die unter fragwürdigen Bedingungen Tiere zerlegen, als Sub-Sub-Sub-Unternehmer im Miet-Van Pakete zustellen, in systemisch geduldeter Schwarzarbeit Senioren rund um die Uhr zu Hause pflegen oder Geschäftsführerhäuser wischen. Die Menschen also, die nicht nur diffuse Inflations-, sondern konkrete Existenzängste haben. Kaum auszudenken, was los wäre, wenn die Online-Handelslieferkette reißen würde, Mama und Papa den Kindern nicht nur auf der Tasche, sondern auch vor den Füßen lägen – oder es kein Kilo Schnitzel für 2,99 Euro mehr gäbe.

Stattdessen streiken in diesem Frühjahr die Privilegierten. Die sichere sozialversicherungspflichtige Jobs und eine funktionierende gewerkschaftliche Interessenvertretung genießen. Die sich im Vergleich zum Beispiel zu den genannten Berufsgruppen nicht wirklich wund arbeiten. Sie streiken, weil sie es können, aus einer Position der Macht und Selbstvergessenheit heraus. Bei der Bahn und im öffentlichen Dienst will es niemand wie in den nobel-verklärten Anfangszeiten der Arbeiterbewegung „dem Kapital“ zeigen. Das funktioniert vielleicht noch in Deutschlands großen Industrien. Wenn die IG Metall ihr Warnstreikritual aufführt, tut das in der Tat vor allem den Unternehmen weh.

Nicolas Schöneich, Redaktionsleiter KAUTSCHUK. Foto: IW Medien

Nicolas Schöneich, Redaktionsleiter KAUTSCHUK. Foto: IW Medien

In den Frühjahrsstreiks allerdings geht es darum, uns allen wehzutun. Um maximales Gegeneinander. Ein Streik soll wirken, spürbar sein. Und dann sollen wir Betroffenen uns in einem Anfall spontaner Persönlichkeitsspaltung solidarisieren, am besten auch noch Wertschätzung zeigen: Mein Zug fährt nicht, und meine Kita hat auch zu? Recht so, mehr Geld für alle! Irre.

Klar ist: Das Streikrecht ist eine historische Errungenschaft, die es zu verteidigen gilt. Dabei geht es aber weniger darum, ob Streikende legal oder legitim handeln. Es geht um klug oder dumm. Wer derartige Kollateralschäden in der Wirtschaft und im öffentlichen Ansehen in Kauf nimmt, wie es Verdi und EVG getan haben – der bettelt darum, dass Streikaktionen in der Kritik stehen und vor Gerichten landen. Und dass dann plötzlich Rechtsprechung entstehen könnte, die Arbeitskämpfen engere Grenzen setzt. Damit hätten die Privilegierten ihrer Sache langfristig geschadet; gewonnen wären bloß Schlagzeilen (und nur ganz zufällig ein paar Neu-Gewerkschafter, die ihr Lohnplus gleich als Mitgliedsbeitrag weiterreichen können). Die, die es nötig hätten, wären aber nur noch hoffnungsloser, dass sie sich jemals etwas erstreiken könnten.

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