Debatte
„Abschottung wäre falsch“
Krisen, Klima, Konflikte: Der Europaabgeordnete David McAllister erklärt im KAUTSCHUK-Interview, warum die EU-Staaten ihre großen Herausforderungen nur gemeinsam meistern können
von Eike Frenzel
Brüssel. Internationale Krisen fordern die EU wie nie zuvor in ihrer Geschichte – gleichzeitig wächst die Kritik an der Brüsseler Bürokratie und den EU-Klimaschutzmaßnahmen, wie die Debatte um das Verbrennerverbot zeigt. Welche gravierenden Folgen ein „Dexit“ für Deutschland hätte und warum die anstehende Europawahl richtungsweisend ist, erklärt der Europaabgeordnete und ehemalige niedersächsische Ministerpräsident David McAllister.
Herr McAllister, Ukraine-Krieg, Nahost-Konflikt, Wirtschafts- und Migrationskrise, Klimadebatte: Was bedeuten diese Entwicklungen für die bevorstehenden Wahlen?
McAllister: Europa steht vor tiefgreifenden sicherheits- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen in einem sehr volatilen geopolitischen Umfeld. Wir müssen unsere Politik an diese Gegebenheiten anpassen, um Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in Deutschland und der gesamten Europäischen Union zu wahren. Angesichts der zunehmenden politischen Polarisierung wird die anstehende Europawahl entscheidend für die Zukunft unseres Kontinents sein. Es gilt, die europäische Idee und ihre Errungenschaften gegen Radikale, Demagogen und Nationalisten zu verteidigen. Nationalistischer Größenwahn und eine abschottende Politik sind angesichts der enormen Herausforderungen der falsche Weg.
Deutschland und Brüssel stehen sinnbildlich für überbordende Bürokratie. Können wir mit weniger EU-Regelungen rechnen?
McAllister: Um der Überregulierung entgegenzuwirken, werde ich mich für einen Stopp weiterer Belastungen durch EU-Initiativen einsetzen und eine Vereinfachung der EU-Gesetzgebung sowie die Streichung unnötiger Regelungen befürworten. Ich plädiere für die Überprüfung der Taxonomie und des Green Deals auf ihre Praxistauglichkeit, insbesondere um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrien zu sichern.
Wegen Wettbewerbsnachteilen wird auch das Lieferkettengesetz als problematisch angesehen …
McAllister: Das EU-Lieferkettengesetz führt zu unnötig großen bürokratischen Belastungen – insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen. Das Gesetz kommt zu einer Zeit, in der unsere Betriebe ohnehin durch hohe Energiepreise, Fachkräftemangel und Engpässe in den Lieferketten belastet werden. Die Effektivität des Gesetzes mit Blick auf den internationalen Schutz der Menschenrechte und der Umwelt ist darüber hinaus fraglich. Das Lieferkettengesetz lehne ich daher in seiner aktuellen Form ab.
Die EVP-Fraktion, zu der Sie gehören, lehnt das Verbrennerverbot ab 2035 ab und will stattdessen technologieoffene Innovationen fördern. Wie ist die Stimmung dazu im Europaparlament?
McAllister: Im Juni 2022 hat eine knappe Mehrheit des EU-Parlaments für die Überarbeitung der CO2-Flottengrenzwerte gestimmt und sich damit vom Prinzip der Technologieoffenheit verabschiedet. Leider haben sich die innovationsfeindlichen Positionen der Grünen, Sozialisten und Linksliberalen durchgesetzt, was Hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland und Europa gefährdet. Als CDU/CSU streben wir in der kommenden Legislatur eine Zukunftsperspektive für den sauberen Verbrennungsmotor an. Dafür ist eine Abkehr vom geplanten Verbrennerverbot ab 2035 notwendig. Wir unterstützen einen Ansatz, der die Weiterentwicklung deutscher Verbrennungsmotortechnologie und den Einsatz synthetischer Kraftstoffe ermöglicht.
Die Kritik an der EU hat zugenommen, zuletzt mit der AfD-Forderung nach einem „Dexit“. Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein EU-Austritt für Deutschland?
McAllister: Die AfD ist ein Standortrisiko für Deutschland. Forderungen nach einem deutschen EU-Austritt sind nicht nur geschichtsvergessen, sie sind auch aus ökonomischer Sicht nicht haltbar. Wie das Institut der deutschen Wirtschaft kürzlich berechnet hat, hätte ein Dexit dramatische Folgen für unser Land. Deutschland könnte rund 10 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verlieren. Zusätzlich wären rund 2,2 Millionen Arbeitsplätze bedroht. Die Menschen und die Betriebe bei uns profitieren in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen von der EU. Der Binnenmarkt ist eine der größten Errungenschaften der europäischen Einigung neben Frieden, Freiheit und Stabilität. Wenn wir künftig mit den führenden und aufstrebenden Digitalstandorten wie den USA, China und Indien mithalten wollen, geht das nur gemeinsam.
Jenseits populistischer Forderungen – wo sehen Sie als überzeugter Europäer Verbesserungsbedarf in der EU?
McAllister: Von außen und innen ist der europäische Sicherheitsraum bedroht. Der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt uns täglich vor Augen, dass der Frieden zerbrechlich ist und die Freiheit verteidigt werden muss. Mit dem Aufstieg Chinas verändern sich die Kräfteverhältnisse in der Welt grundlegend. Die digitale Transformation, künstliche Intelligenz und der Kampf gegen den Klimawandel verändern die Wirtschaftswelt sehr. Die transatlantische Partnerschaft mit den USA ist stark, aber wir müssen mehr dafür tun. Das Erstarken extremistischer, antiliberaler Kräfte und antiwestliche Parallelgesellschaften bedrohen das Fundament des europäischen Projekts und der freiheitlichen Demokratie. Diese Herausforderungen verlangen unseren vollen Einsatz für unser Europa. Ich bin überzeugt: Die EU kann besser werden. Um künftig ihre Erfolgsgeschichte fortzusetzen, sollte sie sich auf die zentralen gemeinsamen Aufgaben konzentrieren. Sie muss für die Menschen da sein und unseren Unternehmen und Beschäftigten im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft einen konkreten Mehrwert bieten. Dafür werde ich mich weiterhin in Brüssel und Straßburg engagiert einsetzen.