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Kautschuk und KI: Wo stehen wir?

Ob in der Produktion, im Labor oder im Büro: Künstliche Intelligenz (KI) bringt enorme Fortschritte – aber auch Veränderungen für die Beschäftigten

· Lesezeit 5 Minuten.

Eine Frage in den Computer tippen und einen scheinbar perfekten Text als Antwort erhalten? Seit der Einführung von ChatGPT vor etwa zwei Jahren ist künstliche Intelligenz fest im Alltag vieler Menschen verankert. E-Mails, Vorträge und sogar ganze Abhandlungen lassen sich nun mühelos erstellen. KI-Technologien ahmen logisches Denken, Lernen und Kreativität nach, mit weitreichenden Folgen für Unternehmen und Beschäftigte – auch in der Kautschukbranche.

In der Industrie spielt KI schon lange eine wichtige Rolle, weiß Christian Bünger, Experte für Digitalpolitik und Digitalisierung beim Verband der Chemischen Industrie (VCI). „KI hatte ihren Ursprung in den 1950er Jahren mit dem wegweisenden Papier ‚Computing Machinery and Intelligence‘ von Alan Turing, aber erst ab 2010 begann der kommerzielle Durchbruch“, sagt er. Möglich wurde dies durch schnellere Computerchips und die wachsende Menge an verfügbaren Daten. Zum Vergleich: Moderne Smartphones sind heute millionenfach leistungsfähiger als der Computer, den die Nasa 1969 für die Mondlandung nutzte. 

Inzwischen gilt KI als revolutionär. Sie erkennt Qualitätsprobleme in der Produktion, minimiert Maschinenausfälle oder wird als Chatbot im Kundenservice eingesetzt. Gerade auch die Forschung setzt große Hoffnungen in KI: Hier ist sie wie ein digitaler Detektiv, der hilft, die richtigen Schlüsse zu ziehen sowie Zeit und Kosten zu sparen. „Es geht darum, Ereignisse vorherzusagen, um die Zahl der Experimente zu reduzieren“, erklärt Bünger. KI-Systeme können dabei unterstützen, neue Verbindungen zu entdecken und zu erahnen, wie unterschiedliche Materialien miteinander reagieren. Statt im Blindflug forschen die Wissenschaftler dann noch zielgerichteter und effizienter.

Weniger Energie, weniger Ressourcen

Im Forschungsverbundprojekt „Digit Rubber“ unter der Leitung des Deutschen Instituts für Kautschuktechnologie (DIK) wird untersucht, wie man mit KI und neuen Messmethoden Gummimischungen optimiert. An einer Versuchsanlage werden Daten in Echtzeit erfasst. Dadurch kann die KI den Extrusionsprozess überwachen und sofort eingreifen, falls etwas nicht nach Plan läuft. Dr. Benjamin Klie, Leiter der Abteilung Verarbeitungstechnik am DIK und zuständig für das Projekt, hat dabei vor allem die Energie- und Ressourceneffizienz im Blick: „Jede Minute, die ich länger innerhalb der technischen Vorgaben bleiben kann, ist keine unnötige Verschwendung von Energie und Material.“ Weniger Ausschuss bedeutet weniger Energieverbrauch – besonders wichtig, da die Maschinenparks in Kautschuk­betrieben viel davon benötigen. Zukünftig könnte KI auch „geeignete Rezepturen für neue Produkte vorschlagen, was viele Experimente im Vorfeld reduzieren würde“, so Klie. Denn bislang beruhten Rezeptur- und Verfahrensentwicklung für neue Mischungen vorwiegend auf menschlicher Erfahrung und Fachwissen.

Data-Mining: Die Versuchsanlage des DIK erfasst zahlreiche Daten. Foto: DIK

Data-Mining: Die Versuchsanlage des DIK erfasst zahlreiche Daten. Foto: DIK

Defekte Teile finden und aussortieren

Eine herkömmliche Prüfmaschine betrachtet die Oberfläche eines Teils und erkennt Fehler, die heller oder dunkler sind als der Rest des Prüfbereichs. Liegt ein Defekt vor, wird aussortiert. So weit, so gut. „Allerdings gibt es gewisse Dichtungsgeometrien und Teile, bei denen diese Erkennungs­methoden nicht funktionieren“, erklärt Gordon Micallef, Business Unit President beim Dichtungsspezialisten Trelleborg Sealing Solutions. Deshalb testet das Unternehmen aktuell KI für die automatische Prüfung von Teilen. Dabei wird die Maschine mit Fotos von produzierten Teilen gefüttert, die als „gut oder schlecht“ klassifiziert sind. „Je mehr die Maschine lernt, desto besser erkennt sie die Teile, die nicht den Vorgaben entsprechen“, so Micallef. Nach Angaben von Trelleborg steht das Projekt kurz vor der industriellen Einführung.

Filtert Fehler: Trelleborgs KI sorgt für optimale Dichtungen. Foto: Joel Gueller/Trelleborg

Filtert Fehler: Trelleborgs KI sorgt für optimale Dichtungen. Foto: Joel Gueller/Trelleborg

Unsichtbares wird sichtbar

Um die unsichtbare Welt winziger Gummiteilchen zu erforschen, setzt der Reifenhersteller Continental gemeinsam mit den Universitäten Süddänemark und Lyon einen extrem leistungsstarken Supercomputer für sogenannte Polymersimulationen ein. Ähnlich einer hochkomplexen Wettervorhersage, die zahlreiche Variablen berücksichtigt, simuliert eine KI am Computer, wie sich Gummi unter bestimmten Bedingungen verhält. „Die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung werden dazu beitragen, die Entstehung von Reifen- und Straßenabriebpartikeln vollständiger zu verstehen und die Materialien, die wir für den Reifenbau einsetzen, künftig noch nachhaltiger zu gestalten“, sagt Matthias Haufe, Leiter Materialentwicklung und Industrialisierung des Reifenbereichs von Continental.

Viel Power: Conti nutzt für Simulationen den Supercomputer „Joliot Curie“. Foto: CEA

Viel Power: Conti nutzt für Simulationen den Supercomputer „Joliot Curie“. Foto: CEA

Vorsicht vor dem Datentümpel

„Der gemeinsame Nenner aller KI-Anwendungen sind die Daten“, sagt Gordon Micallef. Nur mit richtig guten und umfangreichen Datensätzen kann eine KI etwas anfangen. VCI-Experte Christian Bünger spricht in diesem Zusammenhang vom „Datentümpel“: Wenn zu wenige oder unzureichende Informationen vorliegen, fischt auch eine KI im Trüben. Das kann zu falschen Schlüssen führen. Eine weitere Hürde ist, Betriebsgeheimnisse und personenbezogene Daten zu schützen. Es besteht die Gefahr, dass sensible Informationen in falsche Hände geraten, da viele KI-Modelle Informationen speichern, sodass potenziell Dritte darauf zugreifen können.

Klare Daten: Ohne sie ist auch eine KI ratlos. Illustration: KAUTSCHUK/generiert mit Firefly

Klare Daten: Ohne sie ist auch eine KI ratlos. Illustration: KAUTSCHUK/generiert mit Firefly

Neue Anforderungen an Beschäftigte

Verdrängt KI jetzt Arbeitsplätze? Die Befürchtung, dass nun massenhaft Stellen in der Industrie wegfallen, ist wohl übertrieben. Viele einfache Tätigkeiten sind ohnehin längst automatisiert. Experten sprechen vielmehr von „Future Skills“, also Fähigkeiten, die heute wichtig sind und in Zukunft noch wichtiger werden. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt, dass der Einsatz von KI vor allem den Arbeitsalltag von Akademikern und Büroangestellten stark verändern wird. IT-Fähigkeiten und das Verständnis für Nachhaltigkeit werden immer entscheidender, während traditionelle Kompetenzen, speziell in kaufmännischen und labornahen Bereichen, weniger nachgefragt sein werden. Klassische Industriearbeitsplätze wie Reparatur- und Wartungsarbeiten werden dagegen kaum von KI betroffen sein, da sie schwer automatisierbar sind. Sie machen etwa 41 Prozent der Arbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe aus und umfassen rund 3,3 Millionen Stellen, so die Studienautoren. 

Fazit: Während eine KI Daten zu Informationen verarbeitet, bleibt es in der Verantwortung des Menschen, daraus Entscheidungen abzuleiten. Es ist seine Aufgabe, die Ergebnisse richtig zu nutzen. „KI funktioniert nicht ohne die Mitarbeiter. Am Ende muss immer jemand draufschauen, die Ergebnisse prüfen und Chancen und Risiken abwägen“, betont Bünger. Künstliche Intelligenz ist also kein Ersatz für menschliche Intelligenz, sondern ein nützliches Instrument für die Fachkräfte von heute und morgen. 

Blick in die Glaskugel: So sieht KI den Gummi-Experten der Zukunft. Illustration: KAUTSCHUK/generiert mit DALL E

Blick in die Glaskugel: So sieht KI den Gummi-Experten der Zukunft. Illustration: KAUTSCHUK/generiert mit DALL E
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