Standort Deutschland
Im roten Bereich: Die Sozialbeiträge sind zu hoch
Die Beiträge an die Sozialversicherungen haben eine kritische Grenze überschritten. Die Wirtschaft warnt vor üblen Folgen für den Standort
von Stephan Hochrebe
Bonn. Die Sache droht richtig bitter auszugehen, vor allem für jüngere Leute: Die Sozialbeiträge steigen ungebremst und sind schon über einer kritischen Schwelle. Zur Jahresmitte waren es die Pflegebeiträge, die weiter zulegten. Auch bei Rente und Gesundheitsversorgung ist die Lage längst nicht entschärft. Betriebe und Beschäftigte blicken einer Beitragswelle entgegen, die auch Jobs kosten kann.
Alle stöhnen unter der Multikrise einschließlich Inflation und Rezession – und was macht die Politik? Sie schultert Arbeitnehmern und Arbeitgebern weitere Lasten auf, anstatt für Entlastung zu sorgen: Zum 1. Juli stieg der Pflegebeitrag erneut – um 0,35 Prozentpunkte im Schnitt. Menschen ohne Kinder werden stärker belastet, Familien mit mehreren Kindern erhalten Rabatte.
Bereits zu Jahresbeginn wurden der durchschnittliche Zusatzbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung sowie die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhöht. Alles zusammen ergibt das Zusatzlasten von rund 10 Milliarden Euro für die Beitragszahler – pro Jahr.
40 Prozent vom Brutto galten als rote Linie – vorbei
Arbeitgeber und Gewerkschaften sind gleichermaßen alarmiert. So kritisiert Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgeberdachverbands BDA: „In Zeiten wie diesen muss die Politik alles tun, um die Beitragszahlenden zu entlasten. Mit der Beitragserhöhung macht es sich die Politik zu leicht.“ Und Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB, sagt: „Die Erhöhung der Pflegebeiträge in immer kürzeren Abständen ist ganz sicher nicht die Rettung der Pflegeversicherung.“
So aber erreichen die gesamten Sozialversicherungsbeiträge bereits 40,8 Prozent des Bruttoentgelts, bei Kinderlosen sogar schon 41,4 Prozent. Dabei galten eigentlich 40 Prozent als rote Linie, jenseits derer sich Arbeit immer weniger lohnt – weder für Betriebe noch für Beschäftigte. In kaum einem anderen Industriestaat werden die Beitragszahler derart zu Kasse gebeten.
„Die Politik muss die Beitragszahlenden dringend entlasten“ – Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgeberdachverbands BDA
Sicher ist: Ohne echte Reformen geht es Zug um Zug noch weiter in den roten Bereich. Die Beitragsbombe in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung platzt allerspätestens, wenn die Babyboomer in Rente gehen: Bis zum Jahr 2040 wird der Anteil der über 67-Jährigen von heute 19 auf 26 Prozent steigen. Auf einen Rentner kommen dann nicht mal mehr zwei Erwerbstätige! Und die Senioren zahlen deutlich geringere Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung als noch im Arbeitsleben, werden aber mehr Leistungen in Anspruch nehmen müssen.
Jeder Prozentpunkt bei den Beiträgen geht kräftig ins Geld
Dies im Blick, rechnet der Wirtschaftsweise Professor Martin Werding bereits für das Jahr 2030 mit einem Anstieg des Gesamtversicherungsbeitrags auf bis zu 45 Prozent. Wer jetzt nachrechnet, dem dürfte schwindelig werden. Denn schon bei einem Jahresbruttogehalt von 35.000 Euro macht jeder einzelne Prozentpunkt bei den Sozialbeiträgen 350 Euro aus. Die müssen je zur Hälfte vom Betrieb und vom Mitarbeiter gestemmt werden. Damit steigen die ohnehin rekordhohen deutschen Arbeitskosten weiter. Folge: Dann droht für immer mehr Firmen, dass sich die Produktion hierzulande nicht mehr lohnt.
Was also tun? Jochen Pimpertz, Experte fürs Thema im Institut der deutschen Wirtschaft, betont: „Was wir endlich brauchen, sind nachhaltige Strukturreformen in allen Zweigen der Sozialversicherung.“ Es gelte, die stetig steigenden Leistungsversprechen zu begrenzen – und zum Beispiel im Gesundheitswesen endlich auch für Preiswettbewerb zu sorgen und somit für mehr Wirtschaftlichkeit. Dazu brauche die Politik vor allem eines, so Pimpertz: „Mut.“