Debatte

Wie gerecht ist Deutschland?

Nach dem Bauchgefühl vieler Bundesbürger hat unser Sozialstaat an ausgleichender Kraft verloren. Ist da was dran?

von Nadine Keuthen

· Lesezeit 3 Minuten.
Eine Frage der Gerechtigkeit: Rund 36 Prozent der Bundesbürger glauben, es gehe in Deutschland gerecht zu. Illustration: freshidea - stock.adobe.com

Eine kurze Antwort darauf, was Gerechtigkeit eigentlich bedeutet, gibt es nicht. Auch wenn sie schon vor fast 1.800 Jahren vom römischen Juristen Ulpian als der feste und dauerhafte Willen beschrieben wurde, jedem sein Recht zuzuteilen. Doch wer bestimmt, wer welche Rechte hat? Und wer setzt diese Rechte dann um? Was wir als ungerecht oder gerecht empfinden, ist stark davon abhängig, in welchem sozialen und kulturellen Kontext wir uns befinden – und welcher philosophischen Tradition wir uns verbunden fühlen.

Das führt auch dazu, dass jede politische Partei für sich in Anspruch nimmt, für „soziale Gerechtigkeit“ einzustehen – aber eben in unterschiedlicher Art und Weise. Doch obwohl Gerechtigkeit so komplex ist, kann man den Stand der Dinge international vergleichbar machen. Daran arbeitet etwa Wirtschaftsethiker Professor Dominik Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW): Er erstellt aktuell den neuen Gerechtigkeitsindex für Deutschland.

In Krisen beweist unser System Stärke

Im Frühjahr 2025 werden die Ergebnisse veröffentlicht, doch es zeichnet sich jetzt schon ab: Deutschland ist in vielen Aspekten viel gerechter, als es von den Menschen wahrgenommen wird. Denn Umfragen zufolge haben nur rund 36 Prozent der Bundesbürger das Gefühl, es gehe hierzulande im Großen und Ganzen gerecht zu. „Wir neigen eben dazu, oft nur das Schlechte zu sehen“, ordnet Dominik Enste ein. Beim Thema Klimagerechtigkeit gehört Deutschland beispielsweise zu den nachhaltigsten Industriestaaten, der internationale Vergleich der Sustainable Development Goals der UN platziert Deutschland auf den vierten Platz.

Auch der Anteil der Einkommensteuer am Steueraufkommen ist derzeit etwas höher (!) als vor zehn Jahren. Und sie ist ja das wichtigste Umverteilungsinstrument in unserer Sozialen Marktwirtschaft, in der starke Schultern mehr tragen sollen als schwache. Das am besten verdienende Zehntel liefert mehr als die Hälfte aller Einkommensteuer-Euro ab – das am schlechtesten verdienende Drittel dagegen zahlt praktisch keine Einkommensteuer. Gerade auch während der Coronapandemie hat Deutschland sich sozial sehr ausgewogen verhalten. So urteilt die Hilfsorganisation Oxfam, in deren jüngstem Index zur staatlichen „Verringerung von Ungleichheit“ wir auf Platz zwei von 161 untersuchten Staaten liegen.

Ungerechter ist nicht gleich schlecht

„In anderen Bereichen aber ist Deutschland den statistischen Daten nach etwas ungerechter geworden, was aber keine schlechte Nachricht sein muss“, sagt Enste. Was zunächst nach einem Widerspruch klingt, erklärt der Wirtschaftsethiker an einem wichtigen Beispiel: Die Armutsgefährdungsquote hat sich etwas verschlechtert. Es leben also mehr Menschen als früher von weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens.

Damit hat die sogenannte relative Armut etwas zugenommen. Aber diese Zunahme fand eben insbesondere 2015, 2016 und 2022 statt – in jenen Jahren sind besonders viele Menschen nach Deutschland gekommen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind und hier erst mal in die Sozialleistungen rutschten. Somit habe die Verschlechterung der Armutsquote nichts mit einer Verschlechterung unseres Sozialsystems zu tun. Unser System habe in diesen Jahren eher seine Stärke bewiesen. „Wir stehen besser da, als die meisten glauben“, so Enste.

Dennoch gibt es weiterhin Handlungsbedarf, etwa bei der Chancengerechtigkeit. „Wir wollen keine gleichen Ergebnisse für jeden – aber die Startchancen, die sollten für jeden möglichst gleich sein. Um das zu schaffen, müsse jedem Kind die passende Förderung im Bildungssystem angeboten werden. Doch das ist noch nicht der Fall: „Der Bildungserfolg hängt nach wie vor zu stark vom Elternhaus ab“, so Enste.

Um das Sozialsystem zukunftsfest zu machen, müsse laut dem Experten auch etwa das Renteneintrittsalter stärker an die Lebenserwartung gekoppelt werden. Ebenso solle im Steuersystem eine Leistungsgerechtigkeit hergestellt werden. Enste: „Es muss sich lohnen, viel zu leisten!“ Ideen von einem großzügigen Bürgergeld oder gar einem bedingungslosen Grundeinkommen führten in die Irre. Denn was für eine ökonomische Ausgangslage wir nachkommenden Generationen hinterlassen wollen – das ist eben auch eine Frage der Gerechtigkeit.

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