Ausbildung
Azubi-Alarm: Betriebe in Not
Niedersachsens Mittelständler sorgen sich um ihren Fachkräftenachwuchs: Es gibt viel mehr offene Lehrstellen als Bewerber
von Roman Winnicki
Die Fachkräfte von morgen werden branchenübergreifend heiß umworben. Im April dieses Jahres suchten die mittelständischen Unternehmen in Niedersachsen rund 30.000 Azubis. Dem standen allerdings nur 21.000 unversorgte Kandidaten gegenüber! Dass sich die Lehrlingssuche aktuell sehr schwierig gestaltet, untermauert eine von 14 Arbeitgeberverbänden und der Stiftung NiedersachsenMetall durchgeführte Blitzumfrage unter 620 Mittelstandsbetrieben. Außerdem widerlegen die Erkenntnisse aus der Umfrage das Vorurteil, wonach immer weniger Unternehmen ausbilden würden: Denn 95 Prozent der befragten Betriebe gaben an, Ausbildungsplätze anzubieten.
Bildungsniveau auf Talfahrt
Die Erhebung macht auch klar: Das Abitur ist nicht etwa die Grundvoraussetzung für einen Ausbildungsplatz. „Das Gegenteil ist der Fall“, betont Dr. Volker Schmidt, der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände. 60 Prozent der Unternehmen teilten mit, offene Ausbildungsplätze zu haben, für die ein Hauptschulabschluss ausreicht.
Als großer Stolperstein erweist sich allerdings das Bildungsniveau der Schüler in Deutschland. Der Trend zeigt deutlich nach unten, und die Coronapandemie hat dies noch beschleunigt. Nicht nur die Defizite in Sachen digitales Klassenzimmer wurden deutlich zutage gefördert, heißt es vonseiten der Arbeitgeberverbände. Darüber hinaus seien Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien noch weiter abgehängt worden: „Das gesamte Pandemie-Management im Schulbereich setzte auf Maßnahmen, die im Grunde genommen auf gut situierte Familien zugeschnitten waren“, erläutert Schmidt.
Abnehmende qualität der Bewerber
Gemäß den Umfragedaten beklagen knapp drei Viertel der Unternehmen, dass die Qualität von Bewerbungen sinkt. Wie die Verbände schlussfolgern, genügen die in der Schule vermittelten Qualifikationen und Fähigkeiten zu häufig nicht mehr den betrieblichen und berufsschulischen Anforderungen, was den Ausbildungserfolg gefährde.
Vor allem in Mathe und in den Naturwissenschaften ist den befragten Betrieben zufolge das Wissen von Schülerinnen und Schülern zurückgegangen. Dabei sind diese sogenannten MINT-Fächer für den Industriestandort Deutschland essenziell. Die Pandemie hat Praktika und persönliche Begegnungen – wichtige Berührungspunkte für den MINT-Bereich – erschwert und generell die Möglichkeiten der Berufsorientierung massiv eingeschränkt. Die Folgen des fehlenden Austauschs: Unsicherheit und Orientierungslosigkeit unter Jugendlichen.
Potenzielle Nachwuchs-Fachkräfte verschwänden auch deshalb für Jahre auf Universitäten oder im Ausland, weil das Handwerk gesellschaftlich nicht attraktiv genug sei. Dabei könnten dort selbst Ungelernte dank stark gestiegener Gehälter mittlerweile mehr verdienen als manch Studierte.
Spannend: Nur noch für 60 Prozent der an der Umfrage teilnehmenden Betriebe sind Kenntnisse der deutschen Sprache eine Grundvoraussetzung. Perfektes Deutsch ist aber auch bei ihnen kein Muss. Ob in der Schule oder im Betrieb – entscheidend ist, dass Auszubildende ein ausreichendes Sprachniveau besitzen, um die Aufgabenstellungen und Anweisungen zu verstehen.
Nur müssen Jugendliche zuallererst mal den Weg in Ausbildungsberufe finden. Hier sind die Schulen gefordert: „Die Berufsorientierung muss dringend verbessert werden“, lautet eine der Kernforderungen aus den Umfrageergebnissen. Dafür braucht es aber auch einen praxisnahen Unterricht, gute Lehrkräfte und vor allem Schulen, die über hinreichende Sachausstattung verfügten, so Schmidt.
Die Kerndaten der Blitzumfrage:
- 95 % der Unternehmen bieten Ausbildungsplätze an
- Für 60 % der Ausbildungsplätze genügt der Hauptschulabschluss
- 72 % der Firmen beklagen die Qualität von Bewerbungen
- Für 60 % der Betriebe ist die deutsche Sprache Grundvoraussetzung